I. Legal Tech Night

Am 29. September haben wir den Legal Tech Day 2023 in Berlin besucht. Der jährlich stattfindende Legal Tech Day wird vom Legal Tech Verband Deutschland veranstaltet. Dieser wurde vor drei Jahren gegründet und hat im vergangenen Jahr seine Mitgliederzahl auf über 130 verdoppelt. Der Verband dient nicht nur dem fachlichen Austausch, sondern ist auch politisches Sprachrohr der deutschen Legal Tech-Community.

Zum Auftakt fand am Vorabend die Legal Tech Night statt. Wir trafen uns im Basecamp, das sich insbesondere als Location von Veranstaltungen für digitalen Fortschritt etabliert hat. Dort eröffnete Alisha Andert, Vorstandsvorsitzende des Legal Tech Verbandes, die Veranstaltung. Sie ist Moderatorin des Talent Rocket-Podcasts New Lawyers, der sich mit Themen des Rechtsmarkts und Karrierewegen beschäftigt. Die neueste Folge nahm sie an diesem Abend vor Live-Publikum auf, das Fragen beisteuern konnte. Gast der Aufnahme war Georg Eisenreich. Der bayerische Staatsminister der Justiz und ehemalige bayerische Digitalminister erklärte, welche politischen Schritte er ergriffen hat, um sein Bundesland als Spitzenreiter im Bereich Legal Tech zu positionieren.

Bereits drei Projekte initiierte er in Bayern, um die Justiz an die Digitalisierung anzupassen, eines davon ist der Einsatz der codefy-Software am LG Ingolstadt. Wichtig ist ihm, dass man der Justiz vertrauen kann. Er erläuterte seine Vision einer digitalen Justiz und erklärte, welche Voraussetzungen er schaffen möchte, um diese zu etablieren. Das vollständige Interview wird ab November hier zu hören sein.

Im Anschluss tauschten wir uns mit den anderen Gästen aus. Die Teilnehmer kommen aus vielen verschiedenen Branchen und haben alle unterschiedliche Bezüge zu Legal Tech. Neben Vertretern von Kanzleien waren z.B. auch solche von Unternehmen aus der Lebensmittel- oder Versicherungsbranche vor Ort. Mit einem Ausflug zum nahegelegenen Brandenburger Tor beendeten wir den Abend und freuten uns auf den bevorstehenden Legal Tech Day.

II. Legal Tech Day

Der Legal Tech Day fand im Spreespeicher am Stralauer Ufer unweit der Berliner East Side Gallery statt. Wir wurden mit einem Frühstück empfangen, bei dem sich die Gelegenheit bot, die anderen Gäste und Redner der Veranstaltung kennenzulernen.

Zur Begrüßung erschien (natürlich digital) Justizminister Marco Buschmann. In einer Videobotschaft betonte er die Bedeutung, die Legal Tech für den Rechtsstandort Deutschland hat und ermutigte alle Anwesenden, den Wandel der Justiz weiter voranzutreiben. Doch dieser Wandel fällt  besonders dann schwer, wenn die rechtlichen Voraussetzungen dafür wenig Gestaltungsspielraum lassen. Wir diskutierten, ob nicht zunächst die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssten, um neue Konzepte umzusetzen.

Daraufhin folgte ein Impulsvortrag zum ersten Panel, gehalten von Georg Eisenreich. Er schilderte seinen Eindruck zum aktuellen Stand der Leistungsfähigkeit des Rechtssystems. Folgendes haben wir aus seinen Schilderungen mitgenommen:

1. Demografischer Wandel

Eine besorgniserregende Entwicklung der letzten Jahre sei der steigende Richtermangel an deutschen Gerichten. Die bevorstehende Rentenwelle würde diesen zusätzlich verstärken. In einigen Bundesländern seien deshalb so viele Stellen gefährdet, dass eine Handlungsunfähigkeit der Gerichte prognostiziert werden würde. Wie sei auf dieses Problem zu reagieren? Legal Tech eröffne die Chance, die Auswirkungen des Richtermangels einzudämmen. Automatisierte Bearbeitung von Sammelklagen mittels KI, zügige Recherche durch semantische Suche oder organisierte digitale Datenräume: Dies wären nur einige Beispiele dafür, wie Arbeit im Gericht durch Legal Tech effizienter gestaltet werden könne. Dadurch würden Verfahren zeiteffizienter und weniger personalintensiv.

2. Digitalstrategie der Länder und des Bundes

Voraussetzung für die Umsetzung dieser digitalen Konzepte sei eine digitale Infrastruktur vor Ort. Diese einzurichten sei Aufgabe der Länder. Um in jedem Bundesland hochwertigen Rechtsschutz gleichermaßen zu gewährleisten, würden Arbeitsbedingungen und technische Ausstattung an den Gerichten vergleichbar gut sein müssen. Dafür sei ein länderübergreifendes Vorgehen notwendig. Hier sieht Eisenreich die Verantwortung beim Bund. Nur ein bundesweit einheitliches System der digitalen Infrastruktur ermögliche Kompatibilität zwischen den Ländern. Klagen würden dann unkompliziert über Ländergrenzen hinweg bearbeitet werden können, ohne dass erst eine „Übersetzung“ in die jeweiligen technischen Voraussetzungen eines anderen Bundeslandes erforderlich sei.

Es gebe bereits Vorschläge, welche Plattformen und Programme die bundesweite Zusammenarbeit erleichtern könnten; beispielsweise durch das Einrichten eines gerichtlichen Cloudservices. Das Speichern von hochsensiblen Gerichtsdaten erfordere allerdings eine sichere Lösung, die in Sachen Datenschutz keine Kompromisse biete.

3. Niedrigschwelliger Zugang zum Recht

Eine Voraussetzung für ein leistungsfähiges Rechtssystem sei der niedrigschwellige Zugang zum Rechtssystem. Diesen hätte der Einsatz von Legal Tech bereits durch Internetplattformen verbessern können. Über diese Plattformen würden sich Rechtsuchende zusammenfinden können, um Sammelklagen anzustreben, ohne dabei Kosten und Risiken einer singulären Klageerhebung tragen zu müssen.

4. Alternativen zur Gerichtsverhandlung

Ein weiterer Ansatz zur Lösung des Problems sei die vorgerichtliche Streitbeilegung. Gerichtsverfahren gingen nicht nur mit einem hohen Personalaufwand einher, sondern seien für alle Beteiligten insbesondere auch eine finanzielle Belastung. Gerade bei einem geringen Streitwert stehe dieser nur selten im Verhältnis zu den Kosten des Verfahrens. Dies dürfe aber nicht dazu führen, dass ein gleichwohl bestehendes Streitbeilegungsinteresse der Parteien zu kurz kommt.

In solchen Fällen könne eine personal- und kostenschonende Alternative zu einem Gerichtsverfahren beispielsweise eine vorgeschaltete Streitbeilegung sein. Dieses Konzept werde in Kanada bereits genutzt: Online würden juristische Streitigkeiten in einem durch einen Mediator begleiteten Gespräch geschlichtet werden können. Dies erspare – im besten Fall – den Aufwand eines Gerichtsverfahrens.

5. Ausbildung

Um diesen technologiebasierten Fortschritt nachhaltig zu sichern, müsse Legal Tech auch in die juristische Ausbildung Einzug finden. Vereinzelnd böten Universitäten zwar bereits  Veranstaltungen zum Thema Legal Tech an, jedoch sei das Themenfeld im Pflichtprogramm des Studiums noch nicht angekommen. Auf Hinwirken von Eisenreich werde in Bayern seit letztem Jahr der Berufsbereich Legal Tech im Referendariat angeboten. Diese Entwicklung wünschen wir uns auch für Hessen.

6. Reform des Prozessrechts

Der Einsatz von digitalen Konzepten in den Gerichtsprozess müsse sich gegenwärtig den Vorgaben der Prozessordnungen anpassen. Da diese jedoch für ein Verfahren mit Papierakten und analogen Verhandlungen ausgelegt seien, wäre es häufig nur sehr eingeschränkt möglich, Technologie so in das Verfahren einzubeziehen, dass ihr volles Potential genutzt werden könne, damit sich am Ende merkliche Effizienzsteigerungen böten. Weil der digitale Wandel hier immer wieder an Grenzen stoße, würden sich viele Beteiligte eine Reform des Prozessrechts. Dabei könne die E-Akte oder  Videoverhandlungen stärkere Berücksichtigung finden.

Mit diesen Eindrücken möchten wir den ersten Teil unseres Erfahrungsberichts beschließen. Die Inhalte der vier sehr interessanten Panels des Legal Tech Days werden wir in einzelnen Artikeln in den kommenden Wochen veröffentlichen. Wir hoffen, so tiefer in die aufgeworfenen Themen einzusteigen und zum Diskurs anzuregen.