Erstes Panel: Die Zukunft der deutschen Justiz

Das erste Panel des Legal Tech Day beschäftigte sich mit dem Thema „Die Zukunft der deutschen Justiz“. Die Juristin und Journalistin Pia Lorenz, Mitgründerin und ehem. Chefredakteurin von LTO, moderierte die Diskussion. Eingeladen waren neben Philipp Plog, Vorstandsvorsitzender des Legal Tech Verbandes, vier Mitglieder des Deutschen Bundestags mit juristischem Hintergrund: Sonja Eichwede, Richterin und Obfrau des Rechtsausschusses, Dr. Thorsten Lieb, Rechtsanwalt und stellv. Vorsitzender des Rechtsausschusses, Dr. Jan-Marco Luczak, Rechtsanwalt und stellv. Mitglied des Rechtsausschusses sowie Dr. Till Steffen, Rechtsanwalt und Mitglied des Rechtsausschusses.

Lorenz führte in die Diskussion ein, indem sie einen neuen Trend beschrieb: In den letzten Jahren gingen – jedenfalls in den Zivilgerichten – zwar weniger Klagen ein, trotzdem werde die Verfahrensdauer länger. Woran liegt das?

Zunächst wurde der status quo besprochen. Von Lieb hervorgehoben wurde die Relevanz eines funktionsfähigen Justizsystems als gesellschaftlichem Stabilitätsfaktor, insbesondere in unsicheren Zeiten. Lange Verfahrensdauern würden das Vertrauen in unser Justizsystem schwächen. Ein Indiz dafür sei die sinkende Zahl an Klageerhebungen. Die Streitigkeiten seien nicht weniger geworden, sondern es werde zunehmend nach Lösungen außerhalb der Rechtsordnung gesucht, um eine Beilegung des Streites zu erzielen. Dass sich trotz sinkender Anzahl an Klageerhebungen die Verfahrensdauer im Schnitt verlängert, liege daran, dass Schriftsätze umfangreicher und Massenverfahren häufiger werden. Das Problem verschärfe sich durch den sich zuspitzenden Richtermangel.

Lorenz sprach Sonja Eichwede auf eine mögliche Skepsis ihrer Kollegen am Gericht bezüglich neu eingeführter technischer Lösungen an. Diese berichtete von der grundsätzlichen Offenheit ihrer Kollegen für neue Technologien, allerdings mahnte sie auch, die Gerichte bei der Einführung technischer Lösungen, wie  der E-Akte oder der Videoverhandlung nach § 128a ZPO, stärker zu unterstützen. Es sei daher kein Problem der grundsätzlichen Einstellung der Justizangestellten oder der Richterschaft, sondern  eines der sozialverträglichen Einführung neuer technischer Hilfsmittel.

Diese Antwort stieß mit Luczak auf eine Gegenstimme: Bei jüngeren Kollegen möge das stimmen, jedoch würde die ältere Richterschaft auf die Digitalisierungsbestrebungen vorwiegend eher abgeschreckt reagieren. Es sei also jedenfalls bei Einigen doch ein Problem der Einstellung.

Daraufhin stellte  Lorenz die unseres Erachtens berechtigte Frage, weshalb einige der Gäste trotz ihrer Mitgliedschaft im Rechtsausschuss des Bundestages nicht selbst etwas an diesen Problemen geändert hätten. „Die Kollegen hätten viel zu traditionelle Ansichten, um das durchsetzen zu können“, antwortete man darauf sinngemäß.

Doch es soll nun endlich Wandel angestoßen werden: Nach dem Regierungsentwurf des Justizstandorts-Stärkungsgesetz sollen an deutschen Gerichten sog. Commercial Courts eingerichtet werden, in denen Englisch als Verfahrenssprache vereinbart werden kann, Geschäftsgeheimnisse Berücksichtigung finden sollen und Videokonferenzen verstärkt zum Einsatz kommen. Hierdurch sollen Verfahren der Schiedsgerichtsbarkeit wieder zurück an den Justizstandort Deutschland geholt werden. An der Schiedsgerichtsbarkeit kritisiert wurde von Luczak insbesondere die fehlende Möglichkeit der Rechtsfortbildung. Die Gründe, weshalb viele Unternehmen die Schiedsgerichtsbarkeit wählen, seien vielschichtig: professionelle Führung der Verfahren, Schutz von Geschäftsgeheimnissen, Englisch als Verhandlungssprache, höheres Tempo des Verfahrens sowie eine Umgehung der hohen Regelungsdichte des deutschen Rechtssystems. Man ist sich einig, dass diese Hürden abgebaut werden müssen, um der Schiedsgerichtsbarkeit mit dem deutschen Justizstandort Konkurrenz bieten zu können.

Allerdings brachte Steffen Kritik an diesem Entwurf hervor: Er gehe nicht weit genug. § 128a ZPO, der Videoverhandlungen gesetzlich regelt, sei eine Kann-Vorschrift, daher könnten Videoverhandlungen von einer Streitpartei ohne Angabe von Gründen abgelehnt werden. Dies passiere noch zu häufig. Daher sehe der Gesetzentwurf „zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten“ vor, die Videoverhandlung durch das Gericht anordnen zu können. Durch den verstärkten Einsatz von Videoverhandlungen könne man einige der Kosten einsparen, die ein Gerichtsverfahren vor Ort mit sich bringe. Die Covid-Pandemie hätte gezeigt, dass Videoverhandlungen das Gerichtsverfahren vereinfachen würden. Lorenz wies jedoch darauf hin, dass das bestehende Problem für die Umsetzung jedoch nach wie vor  die unzureichende technische Ausstattung der Gerichte sei.

Nach Steffen sei ein weiterer Grund für die Verwehrung des vollen Potentials von Videoverfahren die fehlende Einsatzfähigkeit von digitalen Urkunden. Selbst bei einer Videokonferenz müsse eine Urkunde weiterhin in Papier vorgelegt werden. Diese Brüche im Medienformat würden das Verfahren verlangsamen, was sich beispielweise in der Erforderlichkeit von Papiertiteln im Zwangsvollstreckungsrecht zeige. Zum Abbau dieser Medienbrüche müsse ein kompatibles digitales Urkundendokument geschaffen werden.

Obwohl die Videoverhandlung von der Diskussionsrunde insgesamt viel Zuspruch bekam, wurde vor allem von Plog auch ganzheitliche Kritik laut: Der Kern des Problems sei nicht lediglich die Form der Verhandlungen. Die Politik lege sich hier zu sehr auf Individualrechtsschutz fest. Dieser würde jedoch oftmals nicht dem Bedürfnis nach einer rechtlichen Beilegung der Auseinandersetzung gerecht. Es reiche nicht aus, bestehende prozessuale Möglichkeiten ins Digitale zu transferieren; vielmehr müsste dieses gesamte System neu gedacht werden. Dies könne beispielsweise auch durch eine Verlagerung eines Teils der Verfahren  auf alternative Streitbeilegungsverfahren erreicht werden. Anderen Ländern wäre dies bereits durch verpflichtende, dem Gerichtsverfahren vorgelagerte moderierte Mediationen gelungen.

Die Diskussionsrunde endete mit dem Wunsch nach einer Reform der ZPO und dem credo: think bigger!